Bescheidung ins Wesentliche

Von Reinhard Müller-Mehlis

Es wäre verfehlt, den Maler Michael Engelhardt als einen Surrealisten zu bezeichnen. Die Offenlegung von Unbewusstem, der psychische Automatismus der Surrealisten, wird hier keineswegs angestrebt. Selbst die Verbindung des Unbewussten mit dem Bewussten, von der Rudolf Hausner zur Erläuterung der Schule des Phantastischen Realismus sprach, spielt hier kaum eine Rolle. In den Erscheinungen der inneren und der äußeren Welt eine „gegenseitig kompensierende Verwandtschaft zueinander“ zu erkennen, wie Hausner formulierte, bedeutet zunächst einmal nur, sich mit der Wiedergabe des unmittelbar und ungedeutet Wahrnehmbaren keineswegs begnügen zu wollen.

Michael Engelhardt dagegen vermag Rechenschaft abzulegen über jeden Gegenstand und Zusammenhang seiner oft sehr komplexen Bildkompositionen, über die Nuancen von Licht und Farbe, über fast jedes Detail seiner Darstellungsweise – bis in die sehr sorgsam angewandten Mittel der Maltechnik. Die von Ilse Fath-Engelhardt im Katalog von 1988 zu den einzelnen Abbildungen gelieferten Begleittexte bilden ein beredtes Zeugnis.

Nicht nur in den ausdrücklich als Stillleben definierten Bildern geht es um die Sprache der Dinge: ihre Aussage zu fördern, das Verständnis ihrer Beschaffenheit, Geschichte und Zweckbestimmung. Das ist nur selten „magischer Realismus“ in einer seit Franz Rohs Buchtitel von 1925 etablierten Begrifflichkeit. Bei Engelhardt geht es nicht um die vermeintlich magische Aufladung von isolierten, in möglichst kahlen Räumen vereinzelten Gegenständen, sondern um das Aufzeigen von Bedeutsamkeiten, die sich erst im Beziehungsreichtum eines keinesfalls zufälligen Miteinander erweisen: vorzugsweise im Atelier oder Wohnraum des Künstlers, wo jedes Stück seine eigene Sprache in Hinblick auf seinen hier assoziativen und kreativen, spezifischen Nutzen spricht, aber auch auf den ins Freie einer Winternacht oder einer Wasserlandschaft hinausgestellten, gedeckten Tischen mit ihren Kannen und Verzehrangeboten. Der jeweilige Erzählcharakter lockt in die Erforschung eines Bildrätsels. Enigmatisch habe jedes Bild zu sein, forderte einst schon Giorgio de Chirico -– und das gilt keineswegs nur für die „Pittura Metafisica“. Im Atelier locken die kleinen unbekleideten, geschlechtslos tumben Puppen ins Spiel mit der Ironie: mit Pinsel und Palette als „Genius“, als verkleinerter starrer Partner, mit Hut, doch anders als der Meister, der sie ins Heitere dekoriert. Er verfügt – das sagt er – über weit mehr Mittel als seine Puppen, doch als verkleinerte Versatzstück-Gefährten sind sie ihm gerade recht: bei seiner Bescheidung ins Wesentliche. Mit ihrer Hilfe vermag er sich zu äußern über seine Befindlichkeit, in welcher er der Souverän der eigenen Bewandtnisse zu bleiben versteht. Er verfügt über seine Gegenstände, wie über seine Modelle, doch er lässt ihnen die Qualität der eigenen, spezifischen Existenz, welche er zu interpretieren gedenkt.

Die Dinge qualifizieren sich inhaltlich und formal von ihrer Gestalt und Bestimmung her. Ihre Zuordnung im inszenierten Licht des Innen- wie des Außenraumes prädestiniert sie für ihre präzise Darstellung durch den Maler. Die Prägnanz ihrer Körperlichkeit macht sie begreifbar in der Tiefe und Begrenztheit der räumlichen Dimensionen. Ihre Plastizität hat etwas sehr Grundsätzliches. Der Maler nobilitiert ihre erhabene Schönheit in der Korrespondenz des scheinbar Zufälligen: in den Maßen des Geometrischen wie in den Spuren eines in Permanenz geführten, individuellen Werkstattbetriebes. Der Maler wird sich selber zum Modell, das Modell wird Bestandteil eines Stilllebens.

Die Rätsel versunkener Tiefseewelten lösen zu wollen, wäre dem Forscher gegeben. Der Maler huldigt ihrer wundersamen Existenz, ihrer Symbiose des Phantastischen, als etwas Tatsächlichem. Die Metamorphose menschlicher Gestalten bindet sich ein in den elegischen Charakter einer bizarren Poesie. Traumgespinste mögen es sein, doch die Kunstformen dieser Tiefseenatur sind Teil einer Wirklichkeit. Dem Blick der Alltäglichkeit bleibt sie entzogen. Die Realität ist phantastisch genug, sagt der wissende Maler. Es kann eine ferne Landschaft sein oder ein Blick ins Naheliegende. Assoziationen werden hervorgerufen, mythologische und mögliche Begebenheiten, ein Entrücktsein und ein Traumspiel der möglichen Wunder. Die Regie führt der Maler.

Michael Engelhardt gehört zu den ganz wenigen hierzulande, die auf altmeisterliche Weise ihre lasierende Maltechnik der Schichten und Emulsionen, der Eitempera- und Ölmalerei so sorgsam und in jeweils geeigneter Weise anzuwenden wissen. Vielleicht ist er der einzige weit und breit, dessen geistige Durchdringung der Materie uns zur Kenntnis von Sinngehalten zu führen vermag, welche uns abhanden kamen. Ihm gelingt ein allegorischer Realismus, dessen veristische Darstellungsmittel einen jeweils magischen Charakter zu erreichen trachten, wo Gegenstände und Menschen einer vertrauten Wirklichkeit auf eine gleichsam unwirkliche Weise zusammentreten, weil eine gemeinte Bedeutung auf andere Weise nicht mitteilbar ist. Hintergründiges durchbricht, durchwirkt und überstrahlt den Vordergrund des vertraut Tatsächlichen. Die Koinzidenz von subjektiver Sicht und Empfindung bleibt gewährleistet.

(aus: Michael Engelhardt, Ölbilder und Zeichnungen, 2002         
Reinhard Müller-Mehlis ist Autor von „Des Kaisers neue Kleider“. Der Schwindel der Moderne, 2003)

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